Das 2. Ziel auf der 462km-Rhönrundreise mit KneeBee verschlug uns an die Grenzübergangsstelle (GÜST) in Gerstungen (Bing-Maps) zwischen Thüringen und Hessen. Wir hatten Glück, dass der Bahnhof noch stand, denn laut einem Forums-Eintrag sollte er Anfang des Jahres abgerissen werden. Bei der Erkundung des Areals wurden wir diesmal von einem Mann überrascht, der eine Digitalkamera dabei hatte und einige Bilder vom Gelände machte. Er ermahnte uns, dass wir auf Bahngelände wären und uns strafbar machen würden. Von ihm brauchten wir aber nichts zu befürchten, weil er nur Vermessungen für ein Solarpark tätige, der auf dem Bahnhofsgelände errichtet werden soll. Das müsse jetzt schnell geschehen, denn die Zuschüsse für Solarförderung werden gestrichen. Wir haben noch fünf Minuten mit ihm gequatscht, noch ein paar Fotos geschossen und sind dann wieder weiter gefahren.

UPDATE: Mittlerweile ist der Bahnhof, Ringlokschuppen und Wasserturm abgerissen.

Geschichtliches: Von 1963 bis 1990 gab es wiederum zwei Bahnhöfe in Gerstungen: Den (ursprünglich) Thüringischen Bahnhof Gerstungen für den Regionalverkehr und die Grenzübergangsstelle Gerstungen (GÜST) für die Pass- und Zollkontrollen der grenzüberschreitenden Reise- und Güterzüge zwischen der damaligen DDR und der Bundesrepublik Deutschland.
Die GÜST Gerstungen entstand mit der Umgehungsstrecke Gerstungen – (Dietrichsberg) – Förtha – Eisenach. Der D-Zug D 1 war seinerzeit der erste in die GÜST einfahrende Zug nach dem Fahrplanwechsel im Herbst 1963. Zu diesem Zeitpunkt waren die Grenzkontrollen vom Bahnhof Wartha (Werra) nach Gerstungen verlegt worden, auch die internationalen Reisezüge befuhren ab diesem Zeitpunkt die genannte Umgehungsstrecke. Damit verbunden war, dass einheimische Reisende, die in die Bundesrepublik Deutschland fahren wollten oder von dort kamen und dann Gerstungen zum Reiseziel hatten, in der GÜST weder ein- noch aussteigen durften.
Einige Zeit verkehrten Zubringerzüge GÜST Gerstungen – Eisenach – GÜST Gerstungen für Reisende von / nach Eisenach, da ein Teil der internationalen Reisezüge in Eisenach keinen Verkehrshalt hatten. Reisende nach Gerstungen stiegen also in den Zubringer um, fuhren nach Eisenach, stiegen dort in den Reisezug nach Gerstungen, der sie auf der gleichen Strecke zum Regionalbahnhof Gerstungen brachte. Beide Bahnhöfe sind etwa 80m voneinander entfernt.
In dem Internationalen Kursbuch der DR war ein Halt der grenzüberschreitenden Reisezüge auf der GÜST Gerstungen bis zur Ausgabe 1989/90 überhaupt nicht vermerkt. Die entsprechenden Fahrplantabellen enthielten lediglich das Zeichen “Zug fährt im entsprechenden Bahnhof durch”, obwohl diese Züge bis zu 50 Minuten Kontrollaufenthalt hatten und peinlichst “gefilzt” wurden. Nach der Grenzöffnung erreichte der Reisende die Bahnhofsanlage der GÜST durch den ‘Schwarzen Tunnel’, eine etwa 150m lange Unterführung, die die gesamten Bahnanlagen unterquert und nur dem Zoll- und Grenzpersonal zugänglich war. Überhaupt waren die Anlagen der GÜST absolutes Sperrgebiet, zu denen nur Personen mit Sondergenehmigungen Zutritt hatten. [Ergänzend sei noch erwähnt, dass selbst das Personal des Hilfszuges bei Havarien und Unfällen genau ausgesucht wurde u. im Besitz eines Passierscheines sein musste, bevor es in den GÜST-Bereich einfahren durfte.]
Für Gerstungen Ort und Gerstungen (Gv) gab es auch zwei verschiedene Tarife, entsprechend der Entfernung. Für die Fahrt über Gerstungen (Gv) in d. Bundesrepublik Deutschland wurden 2,02km mehr berechnet als nach Gerstungen selbst, da die Grenze von der GÜST noch 2,02km entfernt war. Wer eine Fahrkarte nach Gerstungen Ort löste, zahlte für 2,02 km weniger, musste aber im Besitz eines gültigen Passierscheines für den Aufenthalt im “5km-Schutzstreifen an der Staatsgrenze West” sein oder im Personalausweis den entsprechenden Sperrzonenstempel haben.
Das alles war mit Öffnung der Grenze und der Einheit Deutschlands schlagartig Geschichte. Aber zu seiner alten Größe bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs oder der Entwicklung in den sechziger Jahren wird der Bahnhof Gerstungen wohl nie wieder zurückfinden.
[Quelle: Schunke Gottfried, Festschrift aus Anlass der Wiedereröffnung der Werratalbahn am 25. Mai 1991, Herausgeber: Deutsche Reichsbahn – Reichsbahndirektion Erfurt (Juli 2008)]

7 thoughts on “DDR-Grenzbahnhof Gerstungen [lost]”

  1. Hallo, ich bin sehr an der Geschichte des ehemaligen Gerstunger Bahnhofs interessiert, da ich in den
    70ziger und 80ziger Jahren jedes Jahr von Kassel nach Bautzen gefahren bin. Auch die Stadt interessiert
    mich sehr, ich werde sie in den nächsten Tagen aufsuchen. Ich habe den Bahnhof ja immer nur für 1/1/2
    Stunden gesehen. Alles drumherum war Sperrgebiet und hatte etwas unheimlich Mystisches. Ich sehe
    immer noch die Vopos in ihren scheußlichen Uniformen, höre ihren Befehlston und sehe, wie sie hinter
    meinem Rücken meinen Koffer filzen und sich rausnehmen, was ihnen gefällt. Die ExDDR lässt mich nicht
    mehr los, ich weiß nicht warum.
    Liebe Grüße, Carlotta

    1. vielen Dank für Deinen Kommentar, aber ich glaube die Fahrt zum Bahnhof nach Gerstungen kannst Du Dir sparen – er ist nämlich komplett abgerissen worden und es wurde ein Solarfeld darüber gebaut… Die Stadt steht natürlich noch 😉

      https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnhof_Gerstungen
      Im Mai 2012 begann der Abriss des Bahnbetriebswerkes und des Grenzbahnhofs, um Platz für einen Solarpark zu schaffen. Auch der ehemalige Lokschuppen und der Wasserturm sollen beseitigt werden.

  2. Hallo,

    ist es denn möglich mit G. Schunke Kontakt aufzunehmen?
    Da ich selber Gerstunger bin interessiere ich mich für den Lokbestand zur Wendezeit (kurz davor und kurz dahinter).
    Meine Informationen sind, das Herr Schunke wohl nicht mehr in Gerstungen wohnt.

    MFG Frank

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